Bibliothek in der Stadt – Stadt in der Bibliothek

Mit zwei Pop-Up-Bibliotheken werden in den Bremerhavener Stadtteilen Wulsdorf und Geestemünd temporäre und flexible Bibliotheksangebote entwickelt, die neue Formate ausprobieren und neue Nutzer*innen anlocken sollen. Die Idee für das Projekt, das im Programm hochdrei der Kulturstiftung des Bundes gefördert wird, hat Juliane Keil von der Stadtbibliothek Bremerhaven zusammen mit ihrer Kollegin Elke Albrecht entwickelt. Ein Gespräch über ihre bisherigen Erfahrungen.

Juliane Keil: Das Stadtgebiet Bremerhaven zieht sich 15 km an der Weser entlang, ist umschlossen von ländlichen Regionen des Landes Niedersachsen. Die Stadtbibliothek besteht aus einer Zentrale in der Stadtmitte und einer Zweigstelle im Stadtnorden. Schon länger wurde deutlich, dass dadurch der Stadtsüden unterversorgt ist – die Bibliothek ist einfach zu weit weg. Dies betrifft natürlich nicht unbedingt Familien, die zu den klassischen Nutzerkreisen einer Bibliothek gehören und mobil sind, aber Menschen, die aufgrund verschiedener Ausgangssituationen die Bibliothek nicht automatisch als für sie relevanten Ort kennen.

Da es der Stadtbibliothek wichtig ist, allen Menschen, unabhängig von Einkommen und Herkunft, den Zugang zu Medien und Informationen zu ermöglichen, hatten wir diese besonders im Fokus.

Außerdem wollten wir gerade auch über die Pop-Up-Bibliotheken und den partizipatorischen Prozess, der in den jeweiligen Stadtteilen stattfinden sollte, für alle deutlich machen, wie Bibliotheken sich heute bereits verändert haben und dass die Menschen, die im Stadtteil leben, darauf Einfluss nehmen können, was der „Ort Bibliothek“ anbietet.

Juliane Keil: Tatsächlich haben wir relativ kurzfristig nach einem Kooperationspartner geschaut. Wir wollten gerne jemanden, der in den jeweiligen Stadtteilen bereits präsent ist. Unser Kooperationspartner, das Kulturbüro Bremerhaven, ist Schnittstelle zwischen Stadtkultur und den Stadtteilen. Sie machen überall dort Kulturarbeit, wo die Bremerhavener*innen jeden Tag sind – in den Stadtteilen, in den Parks und auf der Straße. D. h., sie sind bereits in den Stadtteilen verankert.

Zudem ergeben sich in den jeweiligen Stadtteilen enge Kontakte und Kooperationen mit Einrichtungen und Vereinen vor Ort. So hatten wir in Wulsdorf, unserer ersten Station, tolle Unterstützung durch die dortige InteressenGemeinschaft, aber auch durch „Chance Wulsdorf“, einen Projektteil eines ESF-Bundesprogramms im Stadtteil, die zum Beispiel den partizipatorischen Anteil mit begleitet haben.

In Geestemünde stand uns das Standortmanagement von Anfang an zur Seite und hat uns auch bei der Suche nach Räumlichkeiten unterstützt. Ebenso sind wir im Netzwerk Geestemünde, einem Verbund Gewerbetreibender, Schulen, Vereine etc. im Stadtteil, mit offenen Armen aufgenommen worden. Dadurch ergeben sich Kooperationen nicht nur hinsichtlich einzelner Angebote und Veranstaltungen, sondern vor allem auch in der Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit.

Juliane Keil: Wie bereits gesagt, war durch die räumliche Ausprägung Bremerhavens der Stadtsüden von uns ins Auge gefasst worden. Wulsdorf ist der am südlichsten gelegene Stadtteil. Gerade für ältere Bewohner*innen und Familien mit kleinen Kindern ist es häufig nicht so leicht, bis in die Stadtmitte zu gelangen. Hier ist es sogar so, dass auch betreuende Einrichtungen die Bibliothek zu Leseförderangeboten aufgrund der Wege nicht aufsuchen können.

Auch in Zeiten, in denen die Bibliothek noch deutlich mehr Zweigstellen hatte, war dieser Stadtteil nicht berücksichtigt worden. Hier war also der räumliche Aspekt ausschlaggebend.

Geestemünde liegt zwar auch südlich der Stadtmitte, aber längst nicht so weit entfernt. In der Sozialraumanalyse, die es für viele Stadtteile Bremerhavens gibt, wird jedoch klar, dass Teile des Bereichs Geestemünde als sozial schwach einzustufen sind. Auch die Pro-Kopf-Verschuldung ist sehr hoch (Schuldneratlas 2018). Dazu muss man wissen, dass die Kinderarmut in der Stadt bereits vor Corona bei ca. 40 Prozent lag, d. h. zwei von fünf Kindern wachsen unterhalb oder an der Armutsgrenze auf. Die Stadtbibliothek ist jetzt mit ihrem vorübergehenden Standort in Geestemünde gerade auch in diesem Bereich präsent.

Juliane Keil: Wir haben Kontakt zu verschiedenen „Playern“ im jeweiligen Stadtteil aufgenommen, um ihre Unterstützung als Multiplikator*innen zu bekommen. Ebenso haben wir in Wulsdorf mehrfach die Stadtteil-Konferenz besucht und vom jeweiligen Stand des Projektes berichtet. Natürlich nutzen wir auch die örtliche Presse, Social Media und stadtteilbezogene Veröffentlichungen.

Wir haben festgestellt, dass es sehr wichtig ist, wirklich auch „im Vorbeigehen“ gesehen zu werden. Dieser Punkt war in Wulsdorf nicht so gegeben, da wir ein Ladengeschäft in einer Einkaufspassage hatten. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir eröffneten, hatten zwei Ladengeschäfte leider ihre Öffnungszeiten deutlich eingeschränkt. Die größte Ladenfläche stand zudem leer.

In Geestemünde liegen wir an einer der Hauptverkehrsstraßen, direkt gegenüber einem Sozialkaufhaus. Wir konnten die Schaufensterfronten groß beschriften lassen – das führt zu Interessierten, die einfach mal reinschauen möchten. Wir wollten, gerade auch inspiriert durch unsere Erfahrungen in Wulsdorf, einige Veranstaltungsangebote, die sich bewährt hatten, weiterführen und andere, die unterschiedlichste Zielgruppen ansprechen sollten, neu entwickeln. Dies ist leider unter Corona-Bedingungen sehr schwierig.

Zusätzlich waren wir mit dem Lastenfahrrad, unserem „Geschichtenrad“, das ja auch zum Projekt gehört, bei einer Kultur- und Kreativmesse in der Stadt. Geplant waren Besuche auf dem Wochenmarkt und bei Veranstaltungen wie dem „Blütenfest“. Diese Termine sind coronabedingt ausgefallen und auch auf den Wochenmarkt können wir nicht, da es schwierig ist, die Abstände einzuhalten.

Juliane Keil: Tatsächlich stellen wir einen Unterschied zwischen den Stadtteilen fest. Für uns ist es bisher, trotz Corona, in Geestemünde fast leichter. Vielleicht durch die bessere Sichtbarkeit, vielleicht brauchen die Menschen in den Stadtteilen aber einfach auch eine Zeit, bis sie das Angebot realisieren. Die Geestemünder, die von Anfang an wussten, dass wir in der Zeit von Mai 2020 bis Januar 2021 vor Ort sein wollen, konnten dies eventuell eher verinnerlichen. Man kann an vorherige Informationen anknüpfen. Da gibt es dann so Äußerungen wie: „Stimmt ja, davon habe ich schon was gehört.“ In Wulsdorf war unsere Eröffnung recht schnell nach Projektbeginn.

Unseren partizipativen Auftakt in Wulsdorf nahmen die Menschen gut an. Hier ging es darum, welche Angebote sie interessieren, was sie sich wünschen würden, dass es die Pop-Up-Bibliothek anbietet, aber auch, welche Öffnungszeiten gut sein könnten. Die Idee, dass sie selbst Ideen entwickeln und anbieten, war hingegen sehr schwierig. Vielleicht müssen es die Menschen in Bremerhaven und anderswo erst noch lernen – es ist ja auch ungewohnt mit so etwas wie einem Handarbeitskreis aus dem privaten Umfeld rauszugehen. Entsprechende Angebote, die die Bibliothek initiierte, wurden gut angenommen. Hier hatten wir z. B. einen Näh-Treff in Wulsdorf, der sehr gut angenommen wurde.

In Geestemünde fallen diese Ansätze leider im Moment völlig weg. In der Zeit, in der wir mit Bewohner*innen des Stadtteils entwickeln wollten, wie ihr BIB_Treff aussehen soll, befanden wir uns im Shut Down. Auch jetzt ist es schwierig: Mit Abständen können wir fünf Teilnehmer*innen in dem Raum zulassen. Wir machen ein paar Angebote und hoffen auf gutes Wetter, sodass wir eventuell einiges im Hinterhof durchführen können. Veranstaltungen verlangen ein Hygiene-Konzept unter Einhaltung der Mindest-Abstände. Das ist bei Angeboten aus dem Bereich „Hilfe zur Selbsthilfe“ schwierig, d. h. diesen Bereich müssen wir noch vollständig ruhen lassen – gerade hier wollten wir jedoch gerne noch mehr Erfahrungen für unsere Zweigstelle und auch die Hauptstelle sammeln.

Juliane Keil: Aktuell sind natürlich Corona und die damit verbundenen Einschränkungen und Gefahren unsere größte Herausforderung. Wie schaffen wir es, trotzdem die Grundidee unseres Projektes umzusetzen? Welche ganz neuen Ideen können wir entwickeln?

Ansonsten hängen die Herausforderungen vom jeweiligen Zeitpunkt des Projektes ab. So war in Wulsdorf zum Projektbeginn der Raum die größte Herausforderung. Die Vorgespräche liefen mit der Verwaltergruppe des Immobilienfonds noch gut, danach wechselten die Ansprechpartner*innen laufend. Niemand wusste Bescheid, was der Vorgänger zugesagt hat. Letztlich waren wir froh, kurz vor Mietbeginn endlich einen Mietvertrag in Händen zu haben.

Grundsätzlich ist es eine große Herausforderung, ein solches Projekt ohne dafür freigestellte Projektstelle umzusetzen. Wir haben nur eine Bundesfreiwilligendienstleistende mit einer halben Stelle zusätzlich. Diese unterstützt das Team der Stadtbibliothek bei der Betreuung der Öffnungszeiten und übernimmt die Veranstaltungen mit dem Lastenfahrrad.

Aber wir waren und sind immer noch unglaublich positiv überrascht, wie wir in den Stadtteilen willkommen geheißen werden. Die häufigste Äußerung, die wir hören, ist eigentlich: „Toll, dass Sie da sind – können Sie nicht bleiben?“

Juliane Keil: Mitgenommen haben wir auf alle Fälle, wie wichtig es ist, auf die Menschen zuzugehen und aktiv in der Öffentlichkeit aufzutauchen. In unserer Zweigstelle wird dies natürlich schon umgesetzt und die Arbeit dort ist eng mit dem Stadtteil verzahnt. Wir wollen sehen, ob und wie wir es für die Stadtteile ohne Zweigstelle von der Hauptstelle aus übernehmen können. Eine wichtige Rolle wird hier auch unser Geschichtenrad spielen, das jetzt schon in einem anderen Stadtteil unterwegs ist, weil es von dort angefragt wurde.

Es ist gut, die Menschen anzusprechen und nicht nur darauf zu warten, dass sie von alleine auf die Idee kommen, auf uns zuzugehen. Das haben wir auch schon in der von uns im Januar 2019 durchgeführten Zukunftswerkstatt, in der wir ganz offen alle Interessierten eingeladen haben, festgestellt. Viele möchten die Bibliothek der Zukunft mitgestalten – und vielleicht funktionieren dann ja auch in der Hauptstelle diese sehr niederschwelligen Making-Angebote.

Redaktion und Kontakt

Das Interview führte Sophie Zue am 12. August 2020.

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