Diskussion zum Welttag des Buches in der Amerika Gedenkbibliothek am 23.04.2018
„Welche Lesefähigkeiten brauchen Kinder und Jugendliche heute und wie können wir sie fördern?“
Womöglich könnte ein Held von Harry Potters Format die Krise mildern. Klaus Humann, von 1997 bis 2012 Leiter des Carlsen Verlags in Hamburg und somit Experte auf diesem Gebiet, weiß von einer Umfrage zu berichten, die im Publikationszeitraum der sagenhaft erfolgreichen Reihe in Deutschland unternommen wurde: Ein Drittel der Käuferinnen und Käufer des vierten Bandes hatte in den zwei Jahren zuvor kein Buch gelesen. Ein großer Teil von ihnen verfolgte die Abenteuer des Zauberschülers aus Hogwarts nun aber weiter. Es sei Aufgabe der Verleger, schlussfolgert Humann, „Ereignisse zu schaffen“. Bücher aufzulegen, die Schulhofthema werden und somit die jungen Leserinnen und Leser hoffentlich nachhaltig in den Bann ziehen.
Freilich gibt es dafür keine simple Erfolgsformel. Populäre Kinder- und Jugendbuch-Reihen wie „Gregs Tagebuch“, „Die Tribute von Panem“ oder „Lotta-Leben“ bleiben die Ausnahme in einem insgesamt schwächelnden Marktsegment. Und die Begeisterung fürs Lesen insgesamt.
Die jüngste Ausgabe der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) hat besorgniserregende Ergebnisse gebracht: jeder fünfte Viertklässler in Deutschland lässt grundlegende Lesefähigkeiten vermissen. Ein Stand wie etwa auch in Kasachstan. Und generell nimmt die Zahl der Leser gerade in der Altersgruppe der 14 bis 29-Jährigen rapide ab. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels geht von insgesamt bis zu 6 Millionen Lesern aus, die in den vergangenen Jahren abhanden gekommen sind. Und das meint nicht die Abwanderung zum elektronischen Buch. Drohen Analphabetismus und Bildungsferne auf breiter Front?
Ist digital besser?
Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) hat vor diesem Hintergrund, pünktlich zum Welttag des Buches am 23. April, zu einer Podiumsdiskussion in die Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek geladen. „Welche Lesefähigkeiten brauchen Kinder und Jugendlich heute und wie können wir sie fördern?“, lauten die Titelfragen. Ein komplexes Feld.
Sascha Schroeder, der seit 2012 am Max-Planck-Institut die Forschungsgruppe REaD (Reading Education and Development) leitet, schärft daher eingangs zu Recht dessen existenzielle Dimension:
Der Stellenwert des Lesens als Kulturtechnik werde in einer zunehmend informationsvermittelnden Gesellschaft in Zukunft noch wachsen – zu differenzieren sei freilich, ob das Lesen in Buchform erfolgen müsse.
Sicher, die neuen Medien sind den jungen Digital Natives im Zweifelsfall vertrauter als Papier und längst auch aus Bibliotheken nicht mehr wegzudenken. Aber schaufeln sich die Einrichtungen damit nicht letztlich ihr eigenes Grab? Führen all die iPad-Ralleys und E-Learning-Kurse am Ende wirklich zum Buch?
Barbara Lison, Leiterin der Stadtbibliothek Bremen und Bundesvorsitzende des dbv, ist der Überzeugung. Die Transformation der Gesellschaft durch die Digitalisierung ließe sich schlichtweg nicht ignorieren, betont sie. Und führt als Beispiel ein Projekt wie „Lesen macht stark“ an, das auf die Verlinkung von Buch und digitalen Medien setzt – auf der Basis einer gelesenen Geschichte wird mittels Geo-Cashing, Gaming oder Social Media die eigene Lebenswelt erkundet.
Ein Ort für Erlebnisse
Auch Sarah Wildeisen – Koordinatorin der Kinder-, Jugend- und Schulbibliotheksarbeit der Stadtbibliothek Berlin-Mitte – glaubt an die digitalen Angebote. Weil sie „die Bibliothek als Ort präsentieren, der Erlebnisse schafft“. Ihrer Erfahrung nach halte sich gerade bei vielen Erwachsenen – auch Lehrern und Erziehern – das Vorurteil, die Bibliothek sein ein verstaubter Ort. Umso wichtiger sei es, mit einem modernen Auftritt attraktiv zu werden. Schließlich finden Kinder und Jugendliche nur selten allein den Weg in Bibliothek – oder überhaupt zum Buch.
„Die Schule hat den Auftrag zur Leseerziehung, aber der Grundstein wird in der Kita und im Elternhaus gelegt“, unterstreicht auch Udo Beckmann, Mitglied im Verband Bildung und Erziehung (VBE) und bis 2017 dessen Landesvorsitzender NRW. Je früher hier Anreize geschaffen würden, desto besser – was auch Barbara Lison mit dem Verweis auf Babykurse in Bibliotheken unterstreicht. Vor allem aber, so Beckmann, brauche es ein Zusammenwirken der verschiedenen Bildungsträger – Schulen, Kitas und Bibliotheken –, was wiederum geschultes Personal und ausreichende Mittel voraussetze.
Bücher für die heterogene Gegenwart
Und die Inhalte? Was nützt die modernste Bibliothek, was der größte Lesehunger, wenn die Bücher nicht zu begeistern vermögen – oder den Kindern verschlossen bleiben? Spannend ist hier die aufkommende Diskussion, welche Angebote es für Kinder und Jugendliche aus Familien nichtdeutscher Herkunft braucht. Auch die IGLU-Studie kommt ja zu dem Schluss, die „größte Herausforderung“ sei „der Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft“. Zweisprachige Bücher, etwa in Deutsch und Arabisch, sind aber noch immer Mangelware. „Offenbar wird nicht wahrgenommen, dass unsere Gesellschaft sich fundamental verändert hat“, befindet auch Verleger Humann.
Überhaupt dominierten grade in Kinderbüchern die Geschichten mit weißen Menschen aus dem westlichen Kulturkreis, bemängelt Sarah Wildeisen. Was die Frage aufwirft, ob Kinder in erster Linie sich selbst gespiegelt sehen oder an die Elternkultur andocken wollen – oder ob nicht ein Mix der Kulturen, wie er vor allem in der diversen Stadtgesellschaft Realität ist, abbildenswert wäre? Ein Thema, das nach Vertiefung verlangt.
Leseförderung durch Spaß
Volker Heller, Leiter der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek, ruft jedenfalls noch einmal in Erinnerung, dass alle Didaktik ihre Grenzen hat, wenn nicht das sinnliche Erlebnis im Vordergrund steht: „Es geht um Leseförderung durch Spaß“.