
Kindercliquen in der Bibliothek (Stadtbibliothek Frankfurt am Main)
In der Zentralen Kinder- und Jugendbibliothek (KiBi) in Frankfurt am Main ist ein Phänomen zu beobachten, das auch in Bibliotheken in vielen anderen Städten vorkommt. Es ist dies das Vorhandensein von Kindercliquen, die die KiBi als hauptsächlichen Aufenthaltsort gewählt haben und sich hier tagtäglich treffen. Manchmal sind auch mehrere Gruppen, bestehend aus Kindern oder Jugendlichen, gleichzeitig präsent.
Eine Kindergruppe, die sich oft in der KiBi aufhielt, bestand aus ungefähr sieben Kindern; hin und wieder stießen noch einige weitere Kinder dazu. Das Alter in der Gruppe reichte von 5 bis 8 Jahren; teils kamen auch Geschwister mit. Die Kinder waren bis auf eines alle nicht-deutscher Nationalität; zum Teil wurden sie hier geboren, zum Teil kamen sie sehr jung nach Deutschland. Sie hatten von Kindern, die im gleichen Haus wohnten oder aus demselben Land stammten, von der Kinderbibliothek gehört. Die Kindergruppe kam fast täglich in die Kinder- und Jugendbibliothek und blieb jeweils mehrere Stunden da.
Kinder mit Migrationshintergrund unterscheiden sich in ihrem Verhalten häufig wesentlich von vielen deutschen Kindern, bei denen eine zunehmende „Verwaltung“ durch Eltern oder Einrichtungen zu beobachten ist. Man denke an die Kinder, die fast tagtäglich organisierte Freizeitaktivitäten besuchen und deren Leben durch den Terminkalender vollständig strukturiert ist. Die ausländischen Kinder dagegen erhalten vielleicht einerseits nicht in ausreichendem Maße Zuwendung von zu Hause, was durch verschiedenste Umstände bedingt sein kann – nicht zuletzt durch große Überlastung der Eltern, die oft unter einem enormen ökonomischen Druck stehen. Andererseits haben diese Kinder aber auch ein Stück mehr Freiheit, und diese strahlen sie auch aus. Es ist nicht immer nur einfach für das Personal der KiBi, damit umzugehen. Aber diese Freiheit ermöglicht es Kindern aus Migrantenfamilien, sich auch heutzutage noch – obwohl es in unseren Städten für Kinder immer enger wird – Nischen zu suchen, in denen sie sich wohlfühlen. Sie sind dabei oft sehr kreativ und fähig, sich in ihrer näheren Umgebung das zu suchen, was sie für ihre emotionale Zufriedenheit brauchen – so haben sie auch die Frankfurter Kinderbibliothek entdeckt als einen Ort, der ihnen viel bieten kann.
Selbstbeschäftigung oder Betreuung?
Es war gar nicht etwa so, dass die Kindergruppe, von der hier die Rede ist, durchgängig „betreut“ werden wollte. Als eigentliche Clique war sie durchaus immer wieder in der Lage, sich selbst nach ihren Bedürfnissen zu organisieren. Allerdings war diese Fähigkeit unterschiedlich, je nachdem, wie die Gruppe zusammengesetzt war. Es gab einige Kinder, die dazu sehr viel eher in der Lage waren, und wenn sie fehlten, kam beim Rest der Clique Langeweile auf.
Zu beobachten war, dass die in der Bibliothek angebotenen Medien zwar eine gewisse Rolle spielten, dass sie aber nicht den Hauptgrund bildeten, die KiBi aufzusuchen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich jedoch auch bei diesen Nichtleserinnen und Nichtlesern ein Interesse an Büchern, Comics und Spielen oder Kinder- und Jugendzeitschriften. Spiele wurden von den Kindern vor Ort am meisten genutzt. Die bei der Kinderclique beliebtesten waren: „Memory“, „Dame“, „Mühle“ oder Spiele, die den Ausdruck von Aggression erlauben und die sie wegen der entstehenden Lautstärke im Foyer spielen mussten. Die Kinder brachten aber auch ihr eigenes Spielzeug wie z.B. ihre Puppen mit und spielten damit hinter den Regalen. Die Kinder mochten aber auch Spiele, bei denen sie sich bewegen konnten. Und sie nutzen dabei, da die Bibliothek die Überschreitung eines bestimmten Lärmpegels nicht erlaubte, auch das vor der Bibliothek gelegene Foyer.
Wir machten die Erfahrung, dass die Kinder sich manchmal langweilten und Beschäftigung suchten. Dann versuchten wir, sie punktuell in Aktivitäten in der Bibliothek einzubeziehen. Aus der Tätigkeit der Bibliothekarinnen ergeben sich eine Reihe einfacher Arbeiten, die Kinder gerne verrichten: z. B. Programme falten, Bücher heraussuchen und anderes. Als Bibliothekspädagogin ließ ich die „Bibliothekskinder“ auch bei der Vorbereitung von Projekten helfen: Plakate malen, Ausstellungen aufbauen, das „Bücher-Banden“-Programm (ein regelmäßiges Veranstaltungsangebot für Kinder) vorbereiten. Auch an der Verbuchungstheke gab es für die Kinder manchmal etwas zu „arbeiten“.
Das Hauptinteresse der Kinderclique war es – nebst dem Wunsch nach einem Raum, nach Veranstaltungsprogramm, Medien, Beschäftigung und Hausaufgabenhilfe – Ansprechpartner zu finden. Leute, zu denen sie eine emotionale Beziehung aufbauen konnten, die sie mochten und von denen sie gemocht werden wollten. Sie freuten sich, wenn sie von den Kolleginnen begrüßt wurden, wenn sie nach ihrem Wohlergehen gefragt wurden, wenn sie von ihren Erfolgen oder Kümmernissen erzählen konnten. Für sie wurde die Bibliothek zu einer vertrauten Umgebung, in der sie sich sicher bewegen konnten. Bei den meisten Kindern bestand auch ein Bedürfnis nach Kuscheln und direktem Körperkontakt, was wir ihnen ab und zu im Rahmen des Möglichen und auch entsprechend unserer Sympathie durchaus erfüllten.
Das Interesse und die Zuwendung von mir und meinen Kolleginnen wurde mit sehr viel Anhänglichkeit beantwortet: durch Besuche in den Büros; es wurden uns Zeichnungen geschenkt oder wir wurden beim Eintreten freudig begrüßt. Zu dieser intensiven Beziehung gehörte allerdings auch, dass die Cliquenkinder die Mitarbeiterinnen ärgerten, wenn sie schlechte Laune hatten und sie als „Blitzableiter“ für ihre eigenen Aggressionen nutzten. Auch wurden die Spielregeln in der Bibliothek hin und wieder verletzt. Um diese Regeln, die meist die Lautstärke oder das Springen in der Kinderbibliothek betrafen, gab es viele Auseinandersetzungen, und des öfteren wurden die Kinder zum Spielen ins Foyer geschickt. Wichtig für sie war aber, dass es nicht zum Abbruch der Beziehung kam, dass am nächsten Tag alles wieder in Ordnung war und sie willkommen waren.
Meist verläuft der Kontakt mit solchen Kindergruppen aus Migrantenfamilien in drei Phasen. Zuerst kommen die Kinder relativ schüchtern in die Bibliothek und schauen sich erst einmal um, schauen, was hier los ist und was es zu holen gibt. Dann werden die Grenzen ausgelotet; d. h. man verstößt gegen Regeln, um herauszufinden, was möglich ist, aber auch, wie sicher die Umgebung ist. Erst wenn die Regeln, die in der Einrichtung zum Tragen kommen, geklärt sind und wenn gesichert ist, dass die Beziehungen weitergehen, auch wenn man sich öfter mal „daneben“ benimmt, kann das Alltagsleben beginnen. In vielen Einrichtungen überleben die Beziehungen leider die zweite, die schwierige Phase nicht, da das Bibliothekspersonal oft nicht versteht, wie wichtig gerade das Ausloten der Grenzen für das Sicherheitsbedürfnis der Kinder ist. Es gilt, klare Grenzen zu setzen und den Kindern dennoch zu erkennen zu geben, dass sie nach wie vor willkommen sind.
Lernwerkstatt in der Bibliothek
Tagtäglich kommen vorwiegend ausländische Kinder und Jugendliche in die Zentrale Kinder- und Jugendbibliothek der Stadtbücherei Frankfurt am Main, um dort alleine oder in Gruppen ihre Hausaufgaben zu machen. Darüber hinaus gibt es aber auch die von einer qualifizierten Haupt- und Realschullehrerin angebotene sogenannte „Lernwerkstatt“. Es geht dabei allerdings um sehr viel mehr: Gefördert werden soll die Entwicklung von Sprach- und Denkvermögen sowie die Lesekompetenz; vermittelt werden soll der Zugang zur Literatur, die vielfältige Nutzbarkeit von Printmedien und auch die Nutzung eines Computers zur Informationsbeschaffung und zur schriftlichen Erledigung von Schularbeiten. Denn eine der Hauptaufgaben jeder Bibliothek ist ja bekanntlich die Vermittlung von Kompetenzen, die den sachgerechten Umgang mit vielfältigen Medien erlauben. Bei den Lernenden handelt es sich insbesondere um Grundschulkinder und Gymnasiastinnen und Gymnasiasten; regelmäßig nehmen aber auch Oberstufenschülerinnen und -schüler an der Lernwerkstatt teil. Diese Unterstützung wird jedoch ausschließlich von Kindern aus Emigrantenfamilien in Anspruch genommen. Zusätzlich wird eine „Lernwerkstatt II“ für Jugendliche über 12 Jahre angeboten, in der zwar auch meist Hausaufgaben gemacht werden, die aber auch zeitlichen Raum für Lebensberatung lässt. Oft geht auch beides ineinander über; so wird beispielsweise im Rahmen der Vorbereitung einer Ethikarbeit über das Thema „Sinn des Lebens“ diskutiert, oder ein Referat über den Nationalsozialismus mündet in ein Gespräch über selbst erfahrene rassistische Angriffe.
Chancengleichheit durch Bibliotheksarbeit
Die Kinder- und Jugendbibliothek geht bei dieser Arbeit von bestimmten Werten aus: Sie versteht sich als eine auch soziale Kultureinrichtung, die das Grundrecht auf freien Zugang zu Bildung und Information vertritt. Sie bietet ihre Hilfe beim Lernen kostenlos an, da sich diese Zielgruppe keine ausserschulische Förderung leisten kann. Auch der Begriff der Chancengleichheit spielt eine wesentliche Rolle. Es wird davon ausgegangen, dass diese Lernhilfe ein wichtiger Beitrag dazu ist, ausländischen Kindern und Jugendlichen zu mehr Chancengleichheit zu verhelfen. Dies gilt im Speziellen auch für ausländische Mädchen. Oft dürfen muslimische Mädchen die Angebote der Jugendhäuser nicht in Anspruch nehmen, während der Besuch der Bibliothek als Bildungseinrichtung erlaubt ist. Und so wird die Jugendbibliothek zu dem Ort, der den Mädchen ermöglicht, selbständig oder im Rahmen der Aufgabenhilfe für die Schule oder die Ausbildung lernen zu können. Das heißt schließlich, dass sie darin unterstützt werden, eine höhere Bildung zu erlangen und sich damit mehr Wahlmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven erschließen zu können.
Weitere Informationen
Autorin und Kontakt
Linda de Vos, Bibliothekspädagogin
Zentrale Kinder- und Jugendbibliothek
Tel. 212- 3 36 31
linda.devos@stadt-frankfurt.de