Interkulturelles Lernen und Sprachförderung: Angebote der Stadtbibliothek Nürnberg
Kinder aus Migrantenfamilien beherrschen zwar ihre Muttersprache, bei den deutschen Sprachkenntnissen sind aber oft deutliche Defizite zu erkennen. Die Stadtbibliothek Nürnberg hat zur Förderung der Muttersprache von Migrantenkindern verschiedene Projekte in Bibliotheken und Kindertagesstätten initiiert und Medienkisten bereitgestellt, um damit auch die Sprach- und Leseförderung in Deutsch zu unterstützen.
In einer öffentlichen Bibliothek arbeiten gemeinhin keine Pädagogen und Bibliothekarinnen mischen sich nicht in die Debatten um die Mehrsprachigkeit in Erziehung und Bildung oder um den Kindergarten als Bildungsstätte ein. Aber: dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird uns in den Bibliotheken der Stadt Nürnberg täglich vor Augen geführt. Wir schätzen den Anteil unserer Kundschaft, der aus Familien mit Migrationshintergrund stammt, auf ca. 33 %. In einigen Stadtteilbibliotheken liegt der Benutzeranteil von Kindern, die eindeutig aus nicht muttersprachlich-deutschen Familien stammen, weitaus höher. Und: der deutliche Anstieg in der Nachfrage nach zwei- und mehrsprachigen Medien, nach Materialien zur Sprachförderung und nach Medien zur interkulturellen Erziehung im Kindergarten hat uns die Aktualität dieser Themen verdeutlicht. Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Politiker sind sich einig: die Sprachförderung Deutsch als Zweitsprache im Vorschulalter ist ein wichtiges Thema. Wer im Kindergarten, in einer Kindertagesstätte oder in der Grundschule arbeitet, erlebt es täglich: Viele Kinder, die neu in den Kindergarten kommen, stammen aus Familien mit Migrationshintergrund, sie beherrschen die deutsche Sprache gar nicht oder nur unvollkommen. Diese Kinder sind jedoch nicht „sprachlos“. Die Sprache ihrer Familie beherrschen sie oft auf altersgemäßem Niveau. Die muttersprachliche Sprachkompetenz eines Kindes mit nicht-deutscher Familiensprache wird allerdings nur wenig gewürdigt und gefördert, das Augenmerk liegt eher auf den defizitären deutschen Sprachkenntnissen. In unserem Schulsystem sind auch nach 50 Jahren Immigration die Kinder aus eingewanderten Familien benachteiligt. Die PISA-Studie hat dies eindeutig belegt.
Sprachliche Potentiale der Einwandererkinder nutzen
Die Stadtbibliothek Nürnberg bietet muttersprachliche Kinderliteratur in derzeit zehn Sprachen an. Da die meisten der im Lande geborener Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund nicht muttersprachlich alphabetisiert werden, können sie die Sprache ihrer Familie zwar nicht lesen, jedoch sprechen und verstehen. Für die Bibliothek ergibt sich daraus, dass es sich nicht lohnt, Kinderbücher anzuschaffen, die von den Kindern selber gelesen werden sollen. Stattdessen liegt der Schwerpunkt des Medienangebotes auf Vorlese- und Bilderbüchern und auf audiovisuellen Medien. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Mütter und Väter mit ihren Kindern lieber in der Familiensprache kommunizieren und auch vorlesen. Und warum sollten sie dies auch nicht tun? Ein breiter muttersprachlicher Wortschatz bildet die beste Voraussetzung für den schnellen Erwerb eines breiten deutschen Wortschatzes. Beim Eintritt in den Kindergarten, spätestens bei der Einschulung wird beim Kind ein soziales und sprachliches Grundwissen vorausgesetzt. Wir orientieren uns dabei immer noch am muttersprachlich deutschen Kind, Mehrsprachigkeit ist nur in einigen Modellprojekten vorgesehen. Und bei der Bewertung von Fremdsprachenkenntnissen werden feine Unterschiede gemacht: Englisch, Französisch, Italienisch – das sind Sprachen, in denen Zwei- oder Mehrsprachigkeit als „Plus“ gelten. Türkische, albanische, griechische oder arabische Sprachkenntnisse hingegen werden kaum als Bildungspotential angesehen. In diesem Beitrag geht es nicht um das aktuell diskutierte „Englisch/französisch in der Grundschule oder im Kindergarten“, sondern um die Berücksichtigung sog. Einwanderersprachen wie türkisch, russisch, arabisch oder griechisch, die in Deutschland von einer Vielzahl von Menschen als Familiensprache gesprochen werden. Kinder, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, verfügen über breitere Möglichkeiten im sprachlichen Ausdruck und über bessere Voraussetzungen zum weiteren Fremdsprachenerwerb. Globalisierung, Europäisierung – mehrsprachige Früherziehung wird vielleicht in Deutschland irgendwann einmal zum Bildungsstandard gehören. Warum soll man dabei nicht die sprachlichen Potentiale der Einwandererkinder nutzen? Aber, wie gesagt, Bibliothekarinnen sind keine Pädagogen. Als Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger Nürnbergs sehen wir es jedoch als unsere Aufgabe an, denjenigen, die sich im Bereich Sprach- und Muttersprachenförderung engagieren, entsprechende Medienangebote zur Verfügung zu stellen, sei es deutsch- oder fremdsprachig.
Interkulturelle Angebote der Verlage
Der Buchmarkt in Deutschland bietet zwar derzeit eine Fülle von theoretischem Material zur Interkulturellen Erziehung und zur Mehrsprachigkeit, an geeigneter Originalliteratur für die Hand der Kinder herrscht jedoch Mangel. Aus diesem Grund haben wir für die Stadtbibliothek Nürnberg etliche Bücher aus England importiert. Der Verlag Mantralingua hat sich auf die Produktion mehrsprachiger Materialien spezialisiert und veröffentlicht Bilderbücher u.a. in bis zu 30 verschiedenen zweisprachigen Fassungen. Besonders hervorzuheben ist, dass diese Bücher spannende oder lustige Geschichten erzählen, die frei vom pädagogischen Impetus etlicher deutscher Produktionen sind. In Alfies Angels geht es um einen kleinen Jungen, der beim Weihnachtsspiel einmal den Engel spielen will, und der sich gegen die Einwände der Lehrerin, Engel hätten weiblich und blond zu sein, durchsetzt. Hinter The pied piper versteckt sich das Märchen vom Rattenfänger von Hameln. Andere Titel thematisieren auch Multikulturalität, z.B. That’s my mom von Henriette Barkow, in dem es um „gemischte“ Familien geht, oder Samira’s Eid, eine Geschichte rund um ein bedeutendes islamisches Fest. In Deutschland hatte sich lange Zeit nur der Verlag Anadolu auf die Produktion türkisch-deutscher Materialien spezialisiert. Medien in anderen Sprachen sind leider immer noch Mangelware und, soweit vorhanden, Einzelstücke. Schade, dass z.B. der Nord-Süd-Verlag seine türkisch-deutschen Ausgaben vom Kleinen Eisbär und vom Regenbogenfisch nicht um andere Sprachfassungen ergänzt hat, zumal die Übersetzungen ja aus anderen Ländern (z.B. in italienisch, spanisch, arabisch) vorliegen. Derzeit ist mir kein einziges russisch-deutsches Kinderbuch bekannt – sieht man von einigen Bildwörterbüchern für Kinder einmal ab. Zumindest bei den Wörterbüchern für Kinder hat sich das Angebot in den letzten zwei – drei Jahren verbessert. Neu auf dem Markt ist die Edition bi:libri , die zweisprachige Bücher in verschiedenen Sprachfassungen publiziert. Arthur und Anton erschien in fünf verschiedenen zweisprachigen Fassungen samt Hör-CD (englisch, französisch, türkisch, griechisch, italienisch), Rund um mein Haus für kleine Kinder ab zwei ist ebenfalls in fünf Sprachen angekündigt. Diese Angebote sind meines Wissens der erste Versuch, Geschichten in mehrsprachigen Fassungen auf dem deutschen Markt zu etablieren. In Österreich erschien dieses Jahr Märchenwelt in vier Sprachen, (deutsch, englisch, serbisch, türkisch mit Vokabelteilen), das Buch enthält Märchen wie Des Kaisers neue Kleider . Unsere Ausstellung mit zwei- und mehrsprachigen Kindermedien lenkte Anfang des Jahres 2005 das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die interkulturellen Angebote der Bibliothek. Bei Ausstellungsführungen konnten sich die „Aktiven“ in der Sprachförderung eine Übersicht verschaffen.
SPIKI – Sprachförderung in Kindertagesstätten
In zahlreichen Kindertagesstätten Nürnbergs wird z.B. das vom Jugendamt der Stadt Nürnberg entwickelte Projekt: SPIKI – Sprachförderung in Kindertagesstätten durchgeführt. Ehrenamtliche VorleserInnen betreiben Lese- und Sprachförderung im Kindergarten, das Programm HIPPY (Home Instructions Program for Parents of Prescool Youngsters), ein Spiel- und Lernprogramm für sozial benachteiligte Vorschulkinder und ihre Mütter, wird derzeit in 12 multinational zusammengesetzten Gruppen durchgeführt. In den Grundschulen gibt es ebenfalls ehrenamtliche VorleserInnen. Die öffentliche Bibliothek unterstützt die professionellen und ehrenamtlichen „Sprachförderer“ durch gezielte Angebote. Ehrenamtliche Vorleser und Vorleserinnen sind von der Bezahlung der Jahresausleihgebühr ausgenommen und entleihen Kinderbücher kostenlos. Die Kinderbuchexperten der Bibliothek haben Empfehlungslisten mit besonders zum Vorlesen geeigneten Titeln zusammengestellt. Natürlich sind diese Angebote nicht allein auf die Sprachförderung bei Kindern aus Migrantenfamilien ausgerichtet. In der Kinder- und Jugendbibliothek und in den sechs Stadtteilbibliotheken werden für diese Zielgruppe Deutsch-Lern-Materialien für Kinder und interkulturelle Medien in speziellen Regalen angeboten.
Medienpakete: Interkulturelle Projekte und Leseförderung für sozial benachteiligte Familien
Im Rahmen der sogenannten Bibliothek im Koffer leiht die Stadtbibliothek Nürnberg Medienkisten mit Materialien zur Sprachförderung und Interkulturellen Erziehung und Bilderbuchsätzen in verschiedenen Sprachen an Kindertageseinrichtungen aus. Zwei derartige Medienpakete sind schon seit fast zehn Jahren im Angebot und enthalten zahlreiche praktische Hinweise zur Durchführung von interkulturellen Projekten in Kindergärten. Der Buchmarkt bietet inzwischen so zahlreich Titel zum Thema Interkulturelle Erziehung an, dass es kein Problem darstellte, in diesem Jahr eine weitere Kiste zum Thema Sprachförderung und Interkulturelle Erziehung im Kindergarten zusammenzustellen. Zwei andere Medienpakete, bestückt mit je drei mal zehn deutschen, russisch/deutschen und türkisch/deutschen Bildwörterbüchern, stehen im Rahmen des Modellprojektes „Spielend Lernen in Familie und Stadtteil“ in zwei Stadtteilbibliotheken auf Abruf für Kindertagesstätten und –gärten bereit. „Spielend Lernen“ wurde in Absprache mit dem Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAMF) entwickelt. Es wendet sich an sozial benachteiligte Familien, vorwiegend mit Migrationshintergrund, mit Kindern im Alter von 0 bis 11 Jahren. Andere Kisten enthalten beliebte Bilderbücher in deutschen und fremdsprachigen Fassungen. So bietet eine Kiste z.B. den Regenbogenfisch in deutscher, türkischer, italienischer, griechischer und arabischer Sprache. Aus England wurden die fremdsprachigen Exemplare der Medienkiste: Mein Papa ist ein Riese importiert: in deutscher und 14 weiteren Sprachen können Eltern und Kinder die Geschichte vom kleinen Jungen und seinem großen Vater kennen lernen. Da die Erstsprache der fremdsprachigen Fassungen Englisch ist, haben wir die deutschen Texte mit selbstklebender Klarsichtfolie in die Bücher eingeklebt. Ein zugegebenermaßen sehr aufwändiges Verfahren, aber der Erfolg ist groß. Eine Kiste enthält jeweils bis zu 40 Exemplare. Dazu kommen kurze Begleitbriefe an die Eltern, die dazu aufgefordert werden, ihrem Kind das Buch vorzulesen. Die ebenfalls beigelegten Elternbriefe des Bayerischen Staatsinstitutes für Frühpädagogik in München weisen in zahlreichen Sprachen die Eltern auf die Bedeutung von Sprechen und Vorlesen hin. Die Bücher aus den Kisten werden über die Erzieherinnen an die Kinder bzw. ihre Eltern ausgeliehen. Über den Umweg der Kindertageseinrichtungen erreicht die Stadtbibliothek so auch leseferne Familien, und zwar unabhängig von ihrer Familiensprache. Die fremdsprachigen Fassungen der Bücher animieren (hoffentlich) auch Eltern ohne gute Deutschkenntnisse zum Vorlesen. Das Angebot wird inzwischen ausgeweitet: weitere aus England beschaffte Titel sind in der Zentralbibliothek in derartigen „Mehrfachausgaben“ im Bestand. Das nachträgliche und aufwändige Ergänzen der deutschen Fassung in den englischen Büchern ist sehr wichtig. Eltern, Kindern und Erzieherinnen reicht die muttersprachlich/englische Variante nicht aus, es geht allen Beteiligten um das Lesen auch in deutscher Sprache. Und darum geht es ja letztendlich: um die Erweiterung und Vertiefung von Kenntnissen in beiden Sprachen, der deutschen wie der Familiensprache, als bestes Fundament für weiteren Lern- und Lebenserfolge.
Autorin und Kontakt
Susanne Schneehorst / Stadtbibliothek Nürnberg